Wir erreichen Minden. Ein
weiterer Bahnhof, eine erneute Konfrontation mit dem Durchzug eines Bahnsteigs.
Diese Eigenart scheint also kein lokales Phänomen zu sein, sondern eine
klimatische Verschwörung. Vielleicht aus der schwächelnden, inländischen
Textilindustrie, um den Absatz hässlicher Schals … Schäle … Halswärmer zu
erhöhen. Während ich oben bibbere, holt sie von unten etwas zu trinken. Sie
berichtet von den Preisen. Auf dem Land scheint das Geld zu sitzen, oder auf
Grund der Bevölkerungsdichte sind die ansässigen Kaufleute gezwungen, an einem
Kunden das Gleiche zu verdienen, wie jene in einer Großstadt an 20 …
Wir sind im IC. Nur noch 2,5
Stunden. Unsere Sitzplätze sind schon besetzt, aber wir pochen nicht auf die
Reservierung, da noch genug Platz ist. Lediglich unsere Koffer müssen wir nun
geschickter im Waggon verteilen. In unserem Vierer sitzt noch ein älteres, ich
glaube, holländisches Ehepaar. Sympathische Leute. Reden nicht zu viel. Rechts
von uns sitzt eine kleine, deutsche Familie. Ich will ja nicht zu gehässig wirken,
aber sie sind weder schön, noch glauben sie anscheinend, dass Schweigen Gold
ist. Es sind per se keine verbalen Wasserfälle, aber wenn es um Ruhe geht,
werde ich anspruchsvoll. Der Herr Vater sitzt mit grimmigem Blick an seinem
Smartphone, vielleicht auf der Suche nach der Zoomfunktion, die Frau Mutter
löst ein Kreuzworträtsel und beobachtet argwöhnisch jeden „Neuen“ im Waggon und
einer der beiden Herren Söhne hört ein Hörspiel. Es ist interessant. Er ist
nicht quengelig, er startet lediglich ein wütendes Geheule, als sein Player
streikt, womit er scheinbar seinen Vater freundlich bitten möchte, sich um das
Problem zu kümmern, was jener auch prompt tut. Außerdem hat selbiger Sohn scheinbar noch nicht verinnerlicht, dass nur weil er
wegen der Kopfhörer seine Mitmenschen nicht hört, weshalb diese lauter mit ihm
reden müssen, dieses Prinzip nicht umgekehrt gilt und er seine normale
Lautstärke nutzen könnte. Karma-Payback? Möglich.
Die Reise geht weiter. Ich habe
mein Magazin gelesen, schließlich liegt morgen auch schon die neue Ausgabe am
Kiosk, und die Lärche hat ein Nickerchen eingelegt. Tatsächlich war die letzte
Stunde insgesamt erstaunlich ruhig. Gespenstisch.
Hach ja. Gott sei Dank! Auf die
Familie von nebenan ist Verlass. Auch wenn es so ruhig war, dass der Herr Vater
nun der Last des Doppelkinns nachgegeben hat und der Kopf nun leblos nach vorne
hing, im Schlaf versunken, muss er nun feststellen, dass sein lieber kleiner
Sohn, nennen wir ihn einfach mal Kevin, jegliche Idylle zerschlagen kann. Die kleine
Bratze (man bedenke, dass ich an sich nichts gegen Kinder habe) greift nun auf
das altbewährte Arsenal zurück. Waffen aus einer Zeit der Kassettendecks und
Wanderlieder. „Ich muss mal aufs Klo!“ Schlag Nummer 1 „Sind wir schon da?“ und
„Wie lange fahren wir noch?“ Schlag Nummer 2. Sofortiger Doppel-K.O. Die Mutter
gibt sich resigniert. Das Kreuzworträtsel ist verschwunden. Entweder wurde es
also als unlösbar oder fertig abgelegt, leider galt meine Konzentration
diesbezüglich eher meinem eigenen Magazin. Sie begleitet den kleinen
Blondschopf auf den Pott. Ist ja auch alles nicht so einfach. Wieder im Sitz
unterhalten sich die beiden Kinder. An sich sogar in erträglicher Lautstärke.
Nun begehen die Eltern aber einen uralten Kardinalfehler. Sie bitten die beiden
um Ruhe „Psh“ „Pssssst“ „Seid doch mal leise“ Die Kinder werden lauter. Das ist
aber tatsächlich nicht das Schlimmste an der Sache, sondern die Tatsache, dass
sie sich nun auch beobachtet fühlen und somit jeder Laut der Kleinen eine Scham
vor dem Rest der Fahrgäste ist. Ich fürchte ich muss eine große Summe spenden,
um mein Karmadefizit von heute abzufedern, denn ich genieße die Situation.
Die Kinder sind still … naja
fast. Als Alternative zum Quatschen haben sie sich nun einem Kartenspiel
gewidmet. Cluedo. Eine nette Idee? Nein. Die Fragerei nervt extrem. Zugegeben
unter anderen Umständen wäre es mir wohl egal, aber heute bin ich viel zu früh
aufgestanden, sitze 5 Stunden in der Bahn und will eigentlich doch nur meine
Ruhe. Ein schlimmer Zustand, denn in jenem Moment, in welchem man dieses
Bedürfnis nach Ruhe entwickelt, erhebt sich in gleichem Maße eine Abneigung
gegen Alles, was mit dem Thema Stress und Unruhe assoziiert wird. Was ich dem
Kleinen wohl zu Gute halten kann ist die Tatsache, dass er beim Zocken den Ton
aus hatte beziehungsweise Kopfhörer verwendet hat.
Noch eine gute halbe Stunde. Ich
lehne mich zurück und schaue aus dem Fenster. Ich sollte entspannen. Vielleicht
sehe ich irgendwo da draußen ja den Zen auf einer Liege mit einem Drink inklusive
Schirmchen. Irgendwo dort zwischen den Bäumen im Schnee mit nichts weiter am
Leibe als einer Badehose, aber was soll’s? Es ist schließlich der verdammte
Zen. Meine Gedanken rasen wieder der Zeit voraus und landen bei der letzten
noch bevorstehenden Etappe: Dem Weg vom Hauptbahnhof zur Wohnung. Kein schöner
Gedanke. Ich glaube, ich gehe bis dahin nochmals auf die Suche nach dem Zen auf
der Innenseite meiner Augenlider.
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