Freitag, 5. April 2013

Berlin 2013 Tag 1.3: Neuer Zug, neue Familie



Wir erreichen Minden. Ein weiterer Bahnhof, eine erneute Konfrontation mit dem Durchzug eines Bahnsteigs. Diese Eigenart scheint also kein lokales Phänomen zu sein, sondern eine klimatische Verschwörung. Vielleicht aus der schwächelnden, inländischen Textilindustrie, um den Absatz hässlicher Schals … Schäle … Halswärmer zu erhöhen. Während ich oben bibbere, holt sie von unten etwas zu trinken. Sie berichtet von den Preisen. Auf dem Land scheint das Geld zu sitzen, oder auf Grund der Bevölkerungsdichte sind die ansässigen Kaufleute gezwungen, an einem Kunden das Gleiche zu verdienen, wie jene in einer Großstadt an 20 …
Wir sind im IC. Nur noch 2,5 Stunden. Unsere Sitzplätze sind schon besetzt, aber wir pochen nicht auf die Reservierung, da noch genug Platz ist. Lediglich unsere Koffer müssen wir nun geschickter im Waggon verteilen. In unserem Vierer sitzt noch ein älteres, ich glaube, holländisches Ehepaar. Sympathische Leute. Reden nicht zu viel. Rechts von uns sitzt eine kleine, deutsche Familie. Ich will ja nicht zu gehässig wirken, aber sie sind weder schön, noch glauben sie anscheinend, dass Schweigen Gold ist. Es sind per se keine verbalen Wasserfälle, aber wenn es um Ruhe geht, werde ich anspruchsvoll. Der Herr Vater sitzt mit grimmigem Blick an seinem Smartphone, vielleicht auf der Suche nach der Zoomfunktion, die Frau Mutter löst ein Kreuzworträtsel und beobachtet argwöhnisch jeden „Neuen“ im Waggon und einer der beiden Herren Söhne hört ein Hörspiel. Es ist interessant. Er ist nicht quengelig, er startet lediglich ein wütendes Geheule, als sein Player streikt, womit er scheinbar seinen Vater freundlich bitten möchte, sich um das Problem zu kümmern, was jener auch prompt tut. Außerdem hat selbiger Sohn scheinbar noch nicht verinnerlicht, dass nur weil er wegen der Kopfhörer seine Mitmenschen nicht hört, weshalb diese lauter mit ihm reden müssen, dieses Prinzip nicht umgekehrt gilt und er seine normale Lautstärke nutzen könnte. Karma-Payback? Möglich.
Die Reise geht weiter. Ich habe mein Magazin gelesen, schließlich liegt morgen auch schon die neue Ausgabe am Kiosk, und die Lärche hat ein Nickerchen eingelegt. Tatsächlich war die letzte Stunde insgesamt erstaunlich ruhig. Gespenstisch.
Hach ja. Gott sei Dank! Auf die Familie von nebenan ist Verlass. Auch wenn es so ruhig war, dass der Herr Vater nun der Last des Doppelkinns nachgegeben hat und der Kopf nun leblos nach vorne hing, im Schlaf versunken, muss er nun feststellen, dass sein lieber kleiner Sohn, nennen wir ihn einfach mal Kevin, jegliche Idylle zerschlagen kann. Die kleine Bratze (man bedenke, dass ich an sich nichts gegen Kinder habe) greift nun auf das altbewährte Arsenal zurück. Waffen aus einer Zeit der Kassettendecks und Wanderlieder. „Ich muss mal aufs Klo!“ Schlag Nummer 1 „Sind wir schon da?“ und „Wie lange fahren wir noch?“ Schlag Nummer 2. Sofortiger Doppel-K.O. Die Mutter gibt sich resigniert. Das Kreuzworträtsel ist verschwunden. Entweder wurde es also als unlösbar oder fertig abgelegt, leider galt meine Konzentration diesbezüglich eher meinem eigenen Magazin. Sie begleitet den kleinen Blondschopf auf den Pott. Ist ja auch alles nicht so einfach. Wieder im Sitz unterhalten sich die beiden Kinder. An sich sogar in erträglicher Lautstärke. Nun begehen die Eltern aber einen uralten Kardinalfehler. Sie bitten die beiden um Ruhe „Psh“ „Pssssst“ „Seid doch mal leise“ Die Kinder werden lauter. Das ist aber tatsächlich nicht das Schlimmste an der Sache, sondern die Tatsache, dass sie sich nun auch beobachtet fühlen und somit jeder Laut der Kleinen eine Scham vor dem Rest der Fahrgäste ist. Ich fürchte ich muss eine große Summe spenden, um mein Karmadefizit von heute abzufedern, denn ich genieße die Situation.
Die Kinder sind still … naja fast. Als Alternative zum Quatschen haben sie sich nun einem Kartenspiel gewidmet. Cluedo. Eine nette Idee? Nein. Die Fragerei nervt extrem. Zugegeben unter anderen Umständen wäre es mir wohl egal, aber heute bin ich viel zu früh aufgestanden, sitze 5 Stunden in der Bahn und will eigentlich doch nur meine Ruhe. Ein schlimmer Zustand, denn in jenem Moment, in welchem man dieses Bedürfnis nach Ruhe entwickelt, erhebt sich in gleichem Maße eine Abneigung gegen Alles, was mit dem Thema Stress und Unruhe assoziiert wird. Was ich dem Kleinen wohl zu Gute halten kann ist die Tatsache, dass er beim Zocken den Ton aus hatte beziehungsweise Kopfhörer verwendet hat.
Noch eine gute halbe Stunde. Ich lehne mich zurück und schaue aus dem Fenster. Ich sollte entspannen. Vielleicht sehe ich irgendwo da draußen ja den Zen auf einer Liege mit einem Drink inklusive Schirmchen. Irgendwo dort zwischen den Bäumen im Schnee mit nichts weiter am Leibe als einer Badehose, aber was soll’s? Es ist schließlich der verdammte Zen. Meine Gedanken rasen wieder der Zeit voraus und landen bei der letzten noch bevorstehenden Etappe: Dem Weg vom Hauptbahnhof zur Wohnung. Kein schöner Gedanke. Ich glaube, ich gehe bis dahin nochmals auf die Suche nach dem Zen auf der Innenseite meiner Augenlider.

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